Der promovierte Pädagoge Martin Textor ist wissenschaftlicher Angestellter am Staatsinstitut für Frühpädagogik (IFP) und war zunächst in der Abteilung Familienforschung tätig. Er befasste sich vor allem mit den Themen Ehequalität, Scheidung und Adoption. Später wechselte er in die Abteilung Frühpädagogik.
Guten Tag Herr Textor, stellen Sie sich doch bitte kurz vor und erzählen Sie uns, womit Sie sich beruflich beschäftigen und inwiefern Sie sich mit den Themen Familie und Partnerschaft auseinandersetzen.
„Ich bin 56 Jahre alt – und seit 24 Jahren glücklich verheiratet. Seit vielen Jahren beschäftige ich mich mit der Frage, wie sich Paar- und Familienbeziehungen wandeln, welche Probleme auftreten können und weshalb sie oft zur Trennung bzw. zur Entstehung von Teil- und Stieffamilien führen. Ferner befasse ich mich mit der frühkindlichen Erziehung und Bildung. Seitdem ich mich vom Staatsinstitut für Frühpädagogik beurlauben ließ und zusammen mit meiner Frau das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung gegründet habe, geht es mir zunehmend auch um Entwicklungstendenzen in Wirtschaft und Gesellschaft sowie um deren Auswirkungen auf Partner- und Familienbeziehungen.“
Wie definiert sich heutzutage eine Familie Ihrer Meinung nach? Haben traditionelle Familien überhaupt noch eine Zukunft?
„Viele Menschen haben noch das Leitbild, mit einem Partner bis zum Lebensende zusammen zu sein und mit ihm zwei Kinder großzuziehen. Die Realität sieht aber anders aus: Nach dem Eintritt in die Arbeitswelt fällt es insbesondere Besserqualifizierten immer schwerer, potenzielle Partner kennenzulernen, da die Berufsarbeit längst mehr als 40 Stunden in der Woche beansprucht, die Freizeit immer knapper wird und aufgrund des berufsbedingten Stresses zunehmend für die Regeneration benötigt wird. Hat man einen Partner gefunden, lassen sich oft zwei Karrieren nur schwer miteinander vereinbaren oder die zunehmend verlangte Mobilität führt irgendwann zu einer Wochenendbeziehung. Da sichere und gut bezahlte Stellen seltener werden, wird häufig die Familiengründung hinausgeschoben – manchmal so lange, dass später Reproduktionstechniken notwendig werden, um doch noch ein Kind zu zeugen. Immer mehr Kinder wachsen in nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit nur einem Elternteil oder in Patchworkfamilien auf, gelegentlich auch in Regenbogenfamilien mit zwei gleichgeschlechtlichen Partnern.“
Sie sagen, dass es besonders für Berufstätige schwer ist, einen passenden Partner zu finden. Inwiefern gewinnen Online-Partnervermittlungen in diesem Zusammenhang an Bedeutung?
„Wenn Menschen voll in ihrem Beruf aufgehen, viel Zeit in ihrer Firma verbringen und vielleicht sogar noch Arbeit mit nach Hause nehmen, haben sie die meisten sozialen Kontakte an ihrem Arbeitsplatz. Mit Kolleginnen und Kollegen oder gar mit Vorgesetzten, Untergebenen oder Kunden „anzubandeln“, wird nicht nur ungern gesehen, sondern kann sogar für die Karriere schädlich sein. Damit beschränkt sich der Kreis potenzieller Partner auf die wenigen Menschen im passenden Alter, mit denen man noch außerhalb der Berufssphäre Kontakt hat. Online-Partnervermittlungen können durchaus helfen, diesen Kreis zu erweitern und dabei auch bestimmte Kriterien zu berücksichtigen.“
Was hat dies für Konsequenzen für moderne Paarbeziehungen? In welche Richtung entwickeln sich Partnerschaften?
„Da Frauen zunehmend Vollzeit erwerbstätig sind, da sie auch nach der Geburt eines Kindes immer früher und immer häufiger ganztags in den Beruf zurückkehren, müssen in Paarbeziehungen zwei Erwerbsleben mit oft unterschiedlichen Arbeitszeiten aufeinander abgestimmt werden. Da junge Frauen heute im Durchschnitt bessere Schul-, Berufs- und Hochschulabschlüsse als Männer erworben haben, werden sie immer weniger bereit sein, z. B. nach der Geburt eines Kindes „zurückzustecken“. So gilt es, Kompromisse zu finden – und auch die berufsbedingten Probleme des Partners mitzutragen. Die Kindererziehung kann wegen zunehmend ganztägig geöffneten Kitas und Schulen teilweise an Erzieherinnen und Lehrer delegiert werden, wird die Eltern somit weniger beanspruchen. Dasselbe gilt für den Haushalt – Mahlzeiten müssen nur noch an den Wochenenden zubereitet werden, Putzen fällt seltener an, weil die Wohnung für weniger Stunden in der Woche genutzt wird.“
Sie berichten von bestehenden Mythen, die für Beziehungs- und Eheprobleme verantwortlich sein können. Welche sind das?
„Es gibt viele und ganz unterschiedliche Mythen. So will ich an dieser Stelle nur fünf Beispiele nennen: (1) Wer liebt, weiß intuitiv, was der Partner will, mag, fühlt und denkt. Er versucht immer, alle Wünsche des anderen zu erfüllen und ihn glücklich zu machen. (2) Wer liebt, tut alles mit dem Partner gemeinsam und sucht immer dessen Nähe. (3) In einer guten Beziehung gibt es keine Meinungsverschiedenheiten. Die Partner sind immer offen und ehrlich, haben dieselben Auffassungen, Einstellungen, Ideale und Ziele. (4) Eine gute Beziehung „geschieht einfach“, ohne dass sich die Partner anstrengen und an ihrer Beziehung arbeiten müssen. (5) In einer guten Partnerschaft gibt es keine sexuellen Probleme. Man weiß instinktiv, was der andere Partner im Bett erleben will.“
Wie entstehen diese Mythen und warum entwickeln sie eine solche Stärke?
„Diese Mythen sind sehr alt und gehen auf romantische Vorstellungen von der „echten“, „einzigen“, „großen“ Liebe zurück. Sie werden in Spielfilmen und Liebesromanen immer weiter verbreitet: Mann trifft Frau, nahezu sofort ist die Liebe da (selbst wenn oft von beiden noch unbemerkt), und das große Glück beginnt. Nicht nur Teenager träumen von solch einer Liebe – auch noch genug Erwachsene!“
Welche Konsequenzen können diese Mythen auf eine Beziehung haben?
„Das Gefährliche an diesen Mythen ist, dass sie das offene Gespräch miteinander verhindern und irgendwann ganz schnell zu negativen Gefühlen führen: „Wenn mich mein Partner liebt, müsste er doch wissen, was ich gerade für ein Problem habe! Warum hilft er mir nicht? Vielleicht liebt er mich nicht richtig?“, „Jetzt habe ich schon wieder keinen Orgasmus gehabt! Muss er immer so schnell zur Sache kommen? Sex mit ihm macht überhaupt keinen Spaß mehr!“, „Jetzt haben wir uns schon wieder gestritten! Was ist aus unserer Liebe geworden?“
Welche Tipps können Sie Paaren geben, um eine glückliche und langfristige Beziehung zu führen?
„Die Partner müssen sich von Mythen und Voreinstellungen distanzieren. Wenn ich eine Partnerschaft eingehe, ist der andere für lange Zeit ein „unbekanntes Wesen“. Ich muss auf Entdeckung gehen und all seine Facetten erkunden. Je älter er ist, je mehr Lebenserfahrung er hat, umso mehr bringt er mit, umso länger dauert der Prozess des wirklichen Kennenlernens. Und dieser Prozess gelingt nicht durch bloße Beobachtung und Erraten, sondern durch viele, viele offene Gespräche. Dafür wird viel Zeit benötigt; Vertrauen entwickelt sich nur langsam; zuerst will man auch nur seine guten Seiten zeigen. Ganz wichtig ist auch, sich von der Vorstellung frei zu machen, man könnte seinen (neuen) Partner noch ändern. Der Spielraum ist minimal! Persönlichkeit und Verhalten sind kaum zu verändernde Konstanten …“
Wo können sich Familien bei Problemen Hilfe und Unterstützung holen und welche Art von Unterstützung finden sie dort?
„Für die meisten von uns ist es ein leichter Schritt, sich beim Autokauf oder bei der Geldanlage beraten zu lassen, aber ein sehr großer Schritt, bei persönlichen oder Beziehungsproblemen um Beratung nachzusuchen. Beratung ist aber gleich Beratung! Deshalb sollten Partner und Eltern bei Problemen so früh wie möglich nach Unterstützung suchen – bevor sich diese verfestigt haben. Es gibt ein großes soziales Netz um uns herum, in dem sich für nahezu jedes Problem eine Lösung finden lässt. Es kann in diesem Interview nicht vorgestellt werden, weil es viel zu umfassend ist.
Möchten Sie weitere Information über Martin Textor und seine Arbeit erfahren, kontaktieren Sie ihn unter [email protected].