Wie viel Zweisamkeit braucht eine Beziehung? Wie viel Abstand ist gut? Zu Beginn einer Partnerschaft wünschen wir uns vor allem, dem Partner ganz nahe zu sein. Aber welche Rolle spielen Nähe und Distanz im Laufe einer Beziehung?
Von Schmetterlingen und Flugzeugen
Schmetterlinge fliegen quer durch den Bauch, kreuzen sich mit den Flugzeugen und führen zu einem sanften Kribbeln. So fühlt es sich an, verliebt zu sein. Am Anfang einer Beziehung auch nur eine Stunde ohne den Partner zu verbringen, weckt oft schon die Sehnsucht.
Der größte Wunsch: So viel Zeit wie möglich zu zweit verbringen und dem Anderen so nah zu sein, wie es nur geht.
Doch Ihr Bauchgefühl lässt mit der Zeit nach, Ihre rosarote Brille beschlägt langsam und die Wolken fliegen wieder in gewohnten Bahnen. Das Verliebtsein ist einem größeren Gefühl gewichen: der Liebe. Aber wie viel Nähe ist nötig und wie viel Distanz tut der Liebe gut? Wie finden Sie die richtige Balance zwischen der beziehungswichtigen Nähe und dem nötigen Freiraum für jeden Partner?
Nähe und Distanz: Welche Rolle spielt frühe Bindung?
Schon die Tatsache, wie viel Sicherheit und Geborgenheit wir in unserer Kindheit erfahren haben, prägt unser späteres Bedürfnis nach Nähe und Distanz1. Personen, die „sicher gebunden“ sind, können Beziehungen eingehen und sind in der Lage, Nähe ebenso zu ertragen wie Abstand.
„Menschen, die in der Vergangenheit das Gefühl von Sicherheit und emotionaler Wärme nicht erlebten, haben manchmal Probleme mit einer angemessenen Regulierung von Nähe und Distanz. Entweder schrecken sie vor zu viel Bindung zurück oder aber sie lassen keine Distanz zu – aus Angst, den Anderen zu verlieren“, erklärt eDarling-Psychologin Dr. Wiebke Neberich.
Die Erfahrungen mit der Liebe
Auch die Erfahrungen, die Sie mit Ihren Partnern in früheren Beziehungen gemacht haben, prägen Ihren Wunsch nach Nähe und Distanz. Hatten Sie in der Vergangenheit einen Lebensgefährten, der Sie sehr eingeengt hat und Ihnen keinen Freiraum ließ? Sie werden sicher wollen, dass Ihr neuer Partner Ihnen mehr Raum zum Atmen einräumt, mehr Abstand lässt.
Wenn zwei Menschen aufeinandertreffen, die beide ein großes Bedürfnis nach Freiheit haben, stoßen zwei eigene Welten aufeinander. Oft bleiben nur wenige gemeinsame Stunden, um diese zu vereinbaren. Ist es für beide Partner vollkommen in Ordnung, steht auch einer glücklichen Beziehung nichts im Wege. Vielleicht reicht aber einem der Partner die Zeit der Zweisamkeit nicht mehr aus – und auch bei einer freiheitsliebenden Person kommt der Wunsch nach Nähe auf.
Ein klarer Blick
Das Bedürfnis, mit dem Partner zusammen zu sein, ist vor allem zu Beginn einer Beziehung omnipräsent. Jede Minute ohne den Anderen ist in unseren Augen eine Verschwendung: 60 Sekunden verlorenes Lebensgefühl. Doch nach einer gewissen Zeit tut uns auch ein wenig Abstand gut.
„Am Anfang einer Beziehung ist das gesteigerte Bedürfnis nach Nähe sehr funktional: Denn so können Sie den Anderen intensiv kennenlernen und eine Bindung aufbauen“, erläutert Dr. Neberich.
Der Wunsch nach Unabhängigkeit
Auch wenn es in der ersten Phase der Verliebtheit nicht den Anschein macht: Ein Paar besteht aus zwei Partnern: Zwei Persönlichkeiten, die sich zwar gegenseitig beeinflussen können, aber sich dennoch eigenständig entwickeln. Das anfängliche Aneinanderhaften schafft Einheit und Verbundenheit.
Doch es ist unablässig, dass die Zeit kommt, in der die Partner den Freiraum für ihre persönliche Entwicklung erhalten, ohne das Gefühl der Verbundenheit missen zu müssen. Eigenen Interessen und Freundschaften nachzugehen, stärkt den Charakter, fördert das Selbstbewusstsein und stellt keine Bedrohung für die Liebe dar.
„Wenn die Beziehung vorangeschritten ist, ergibt sich durch die etablierte Bindung auch wieder mehr Raum zur persönlichen Selbstentfaltung“, so Dr. Neberich.
Nähe und Distanz in Fernbeziehungen
Leben die Partner beieinander, kann es mitunter schwierig sein, eine gewisse Distanz zu bewahren. Die Versuchung ist groß, die Tage und Nächte miteinander zu verbringen, jede freie Minute zu teilen. Ist es vielleicht dann nicht sogar von Vorteil, eine Fernbeziehung zu führen? Vom Lebensgefährten räumlich getrennt zu sein, erspart die Frage nach mehr Abstand.
Eine Fernbeziehung erlaubt den Partnern, eigene Wünsche zu fokussieren, die Zeit allein zu genießen und sich nach dem Anderen zu sehnen. In solch einer Situation festigt sich nicht nur der eigene Charakter sondern auch das Vertrauen zum Partner. Eine Fernbeziehung kann sehr gut funktionieren. Aber auf Dauer?
Mehr Nähe – mehr als nur Alltag
Was solchen Beziehungen fehlt, ist der gemeinsame Alltag. Der Alltag, das Fallbeil der Liebe? Sie haben richtig gelesen. Die Nähe, die im alltäglichen Einerlei entsteht, sorgt für die Bindung der Partner aneinander; für Zusammengehörigkeit und Verbundenheit. Zu viel Nähe zwischen den Lebensgefährten ist aber ebenso nachteilig wie zu viel Distanz. In der Liebe zum Anderen sollen Sie aufgehen, sich gut fühlen, aber sie sollen nicht hinter einem „Wir“ verschwinden.
Auf den Anderen zugehen
Wenn Ihr Bedarf nach Nähe und Distanz sich von dem Ihres Partners unterscheidet, ist das nichts Ungewöhnliches. Wichtig ist nur, dass Sie das offen ansprechen und sich über Ihre Ängste, Wünsche und Bedürfnisse austauschen.
„Es ist erforderlich, ein Stück weit auch unterschiedliche Bedürfnislagen zu akzeptieren. Sich Distanz zu wünschen muss nicht immer heißen, dass Sie weg vom Partner möchten. Es kann auch bedeuten, sich mehr Zeit für sich selbst zu wünschen. Das ist ein entscheidender Unterschied“, stellt Dr. Neberich fest.
Wie viel Nähe und Distanz ist gut?
In einer Beziehung müssen die Partner immer wieder das Gleichgewicht zwischen Nähe und Distanz finden. Zweisamkeit und Unabhängigkeit sind zwei wichtige Pfeiler in einer Partnerschaft die stets aufs Neue ausbalanciert und in Einklang gebracht werden müssen. Ohne Nähe ist keine Bindung möglich und ohne Distanz keine Selbstentfaltung.
Leider gibt es kein Geheimrezept, wie viel Nähe und Distanz in einer Beziehung angemessen ist. Sie müssen selbst die Grenzen testen. Machen Sie eigene Erfahrungen, gehen Sie in sich und aus sich heraus, binden und entfalten Sie sich. Das Geheimnis ist, immer wieder bereit zu sein, Nähe und Distanz erfahren zu wollen und zuzulassen. Lassen Sie sich darauf ein!
Quellen:
– 1 Bretherton, I. (1992).The origins of Attachment theory John Bowlby and Mary Ainsworth. Developmental Psychology, 28, S. 759 – 775.